In ‚Krisenzeiten‘ lässt sich am Gesamtzustand der Gesellschaft besonders deutlich ablesen, wie mehr oder weniger gerecht, stabil und gesund diese ist. Wen treffen die Folgen der ‚Krise‘ am härtesten? Welche Art von Anerkennung und Solidarität erfahren die Betroffenen? Inwiefern werden sie in der weiteren ‚Krisenbearbeitung‘ mit ihren Bedürfnissen gehört? Wie werden ihre Stimmen in weiteren Entscheidungsprozessen in Richtung einer „gemeinsame[n] Vision des Guten“1 berücksichtigt? Und wird im Ergebnis letzten Endes wirklich die ‚Krise‘ als Chance genutzt, um die bestehende Gesellschaft in eine Gesellschaft zu transformieren, in der es ‚gerechter‘ zugeht?
Die gegenwärtigen Auswirkungen und Folgen der COVID-19-Pandemie2 zeigen eindrücklich, dass Theorie und Praxis einer Restorative Justice3 (RJ) von einer hohen gesamtgesellschaftlichen Relevanz sind. Dies gilt natürlich nicht, solange diese rein technisch als ein Sammelsurium an mediativen Praktiken gedacht wird. RJ basiert auf Werten wie Empathie, Fairness und Gerechtigkeit, Beteiligung, Frieden, Würde, Herzlichkeit, Respekt, Solidarität, Selbstbestimmung, Verantwortung, Verzeihung, Weitsicht, Nachhaltigkeit und Zuversicht. In der Praxis sollte sie daher viel mehr als Ausdruck eines Bekenntnisses zu diesen Werten verstanden werden und damit konsequent an allgemeinen menschlichen Bedürfnissen anknüpfen, die darin bestehen Zugehörigkeit zu erfahren, gehört zu werden und als Mensch wirken bzw. mitgestalten zu können. Lassen Sie auch uns genau hier ansetzen, um ein gesellschaftlich relevanteres ‚big picture‘ von RJ zu zeichnen und einer gesamtgesellschaftlichen Vision von sozialer Gerechtigkeit näherzukommen.4
Welches Potenzial RJ hierbei entfalten kann, zeigen einige der Autor*innen, die sich in dieser Ausgabe anhand von unterschiedlichen Beispielen mit Bedingungen, Möglichkeiten und Chancen von RJ im Vorfeld von Krisen (Prävention), während Krisen (Krisenbearbeitung) und im Übergang bzw. im Anschluss an Krisen (Nachsorge und soziale Transformation) beschäftigen. Ein maßgeblicher Schwerpunkt liegt hierbei auf der Auseinandersetzung sowohl mit den Folgen von COVID-19 (u. a. auch für die deutsche Justiz und in ihrem Auftrag arbeitende freie und öffentliche Träger) als auch mit deren damit einhergehenden Chancen. Doch auch in Bezug auf das deutsche Umweltrecht (‚Klimakrise‘), in Zusammenhang mit systematischen Menschenrechtsverletzungen und der US-amerikanischen Bewegung „Building a New Reality“, die sich für eine „Demokratisierung des alltäglichen Lebens“5 einsetzt, wird das Thema ‚Justice in Krisenzeiten‘ diskutiert und weitergedacht. Ebenso war es uns wichtig, neben theoretischen auch sehr praxisbezogene Fragestellungen aufzugreifen, die das TOA-Servicebüro in den vergangenen Monaten erreicht haben (z. B. Konfliktvermittlung in Zeiten von ‚physical distancing‘ durch Onlinemediation). Es ist den gegenwärtigen Umständen geschuldet, dass Sie in der Rubrik „Tagungsberichte“ ausnahmsweise eine Ankündigung vorfinden: Das European Forum for Restorative Justice (EFRJ) feiert Anfang Dezember mit dem REstART Festival sein 20-jähriges Bestehen. Wir möchten diese Möglichkeit nutzen, Sie ein weiteres Mal auf diese europaweit einzigartige und unersetzbare Organisation sowie ihre Aktivitäten aufmerksam zu machen, und gleichzeitig allen Akteur*innen des EFRJ zu diesem besonderen Anlass herzlichst gratulieren!
Um das COVID-19-Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten, haben wir vom TOA-Servicebüro übrigens beschlossen, unseren diesjährigen RJ-Fachtag am 20. November zum Thema „Heilen statt Strafen“ online durchzuführen. Weitere Informationen finden Sie hier.